Statistische Toleranzen

1.   Warum braucht es Toleranzen?

Während ein CAD-Modell die ideale und perfekte Geometrie eines Bauteils darstellt, treten in der Realität Störfaktoren auf, welche die effektive Teilegeometrie beeinflussen. Einer der wichtigsten Einflussfaktoren ist der Fertigungsprozess als solches, aber auch Umwelteinflüsse wie beispielsweise Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen haben Auswirkungen auf unsere Teilegeometrie.

Bei einem Fertigungsteil können folgende Abweichungen zur Idealgeometrie auftreten:

  • Massabweichungen
  • Formabweichungen
  • Oberflächenabweichungen

Mit Hilfe von Toleranzen bzw. Toleranzbereichen werden die erlaubten Abweichungen, also ein Duldungsbereich festgelegt, um eine fehlerfreie Funktion und Montage jederzeit zu gewährleisten.

2.   Arithmetische Toleranzanalyse (Worst Case)

Die arithmetische Toleranzanalyse, auch bekannt als Extremwert-Methode, Minimum-Maximum-Prinzip oder Worst Case Analyse, ist die wahrscheinlich am weitesten verbreitete und am häufigsten angewandte Methode zur Toleranzanalyse.

Der Hauptvorteil dieser Methode ist mit Sicherheit die jederzeit garantierte, 100%ige Austauschbarkeit von Bauteilen. Allerdings ergibt sich bei langen Massketten, bedingt durch die Aufsummierung der Einzeltoleranzen, ein grosses Toleranzfeld des Schliessmasses (Z). Dadurch könnte zum Beispiel eine fehlerfreie Funktion der Baugruppe gefährdet werden. Um dies zu vermeiden, müssten die Toleranzfelder der Einzelmasse verkleinert werden, was wiederum höhere Fertigungskosten zur Folge hat. Meistens wird natürlich nach dem „Sowohl-als-auch“ gestrebt. In diesem Zusammenhang heisst das, möglichst niedrige Fertigungskosten bei nach wie vor gewährleisteter, einwandfreier Funktion. Gerade bei Systemen, welche in hoher Stückzahl hergestellt werden, kommen daher immer häufiger andere Methoden zur Toleranzanalyse zum Einsatz.

3.   Statistische Toleranzanalyse

Statistische Methoden zur Masskettenanalyse basieren auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung, sowie den folgenden Annahmen:

  • Bei der Fertigung wird immer die Mitte des Toleranzfeldes angestrebt
  • Der Fertigungsprozess ist stabil
  • Die Wahrscheinlichkeit, ausschliesslich grenzlagige Bauteile in einer Baugruppe zusammen zu montieren ist gering (und nimmt bei zunehmender Anzahl der Bauteile weiter ab)

Im Gegensatz zur arithmetischen Toleranzanalyse ist hier nur noch eine teilweise Austauschbarkeit von Bauteilen gewährleistet, während ein niedriger prozentualer Anteil von ungünstigen Fällen (Ausschuss) auftreten kann. Allerdings können dafür die Einzelmasse einer Masskette mit grösseren Toleranzfeldern versehen werden, was zu einer Senkung der Produktionskosten führt.
Bei einer Toleranzkette von mindestens vier oder mehr Einzelmassen (Faustregel) kann eine statistische Betrachtung sinnvoll sein.

3.1   Verteilungen und Prozessfähigkeit

Sogenannte Verteilungen spielen im Zusammenhang mit der statistischen Betrachtung einer Mass- bzw. Toleranzkette eine wesentliche Rolle. Mit Hilfe der Dichtefunktion einer Verteilung kann z. B. ein (stabiler) Fertigungsprozess mathematisch beschrieben werden.

Untenstehende Tabelle zeigt einige Verteilungen mit  Dichtefunktion, sowie deren Anwendungsfall:

In einem stabilen Fertigungsprozess kann die Streuung der Einzelmasse in den meisten  Fällen durch die Normalverteilung beschrieben werden. Diese Verteilung wird durch die Dichtefunktion der Gauss‘schen Glockenkurve beschrieben.
Die Form dieser Kurve ist durch folgende zwei Parameter bestimmt:

  • Erwartungswert µ (Mittelwert) -> Bestimmt die Position des Maximums
  • Varianz σ2 bzw. Standardabweichung σ (Sigma) -> Mass für die Streuung (Breite der Kurve)

Nachfolgende Tabelle zeigt die Prozessausbeute (Gutteile) für einen normalverteilten Fertigungsprozess abhängig von der Lage der Grenzmasse:

3.2   Root Sum Squares (RSS) Methode

Diese Methode der statistischen Toleranzanalyse ist wohl die am weitesten verbreitetste. Sie geht von der Voraussetzung aus, dass alle Teilabmasse nach der Prozessqualität 3σ hergestellt werden. Lineare Toleranzketten können auf diese Weise statistisch analysiert werden (mit sinnvollerweise mindestens vier oder mehr Einzelmassen).

Berechnung der Standardabweichung σ für Einzelmasse:

 

Erwartungswert µ (Mittelwert) des Schliessmasses (Z):

Standardabweichung σ des Schliessmasses (Z):

(Achtung! Richtungsabhängigkeit der Vorzeichen beachten.)

Ergibt für das Schliessmass:

Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99.74 % wird das Schliessmass (Z) innerhalb des Toleranzbereichs von ±3σZ liegen.

4.   Fazit

Natürlich gibt es noch viele weitere, genauere, aber meist auch komplexere Methoden zur Toleranzanalyse. Wie sicherlich in vielen anderen Firmen wird auch bei uns nach wie vor grösstenteils die arithmetische Toleranzrechnung durchgeführt. Trotzdem bietet die RSS-Methode in einigen Fällen eine gute Alternative, um eben die Eintrittswahrscheinlichkeit des „schlimmsten Falls“ abschätzen zu können. Welche Methode zur Toleranzanalyse letztendlich zum Einsatz kommt, ist natürlich von Situation zu Situation verschieden. Geht es um eine einzelne Vorrichtung oder um ein Serienprodukt, welches mit Stückzahlen in Millionenhöhe gefertigt werden soll? Unsere Entwickler und Konstrukteure sind täglich im Sinne unserer Kunden gefordert, das jeweils geeignete Verfahren auszuwählen und anzuwenden.

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