Reverse Engineering

Vergangenheit, Spezialfall, Gebastel oder Zukunftsmusik?

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir erst einmal wissen, was der Begriff „Reverse Engineering“ (abgekürzt RE) überhaupt bedeutet. Wörtlich übersetzt heisst dies „umgekehrt entwickeln“. Oft wird es aber auch als „Rekonstruktion“ oder sogar „Nachkonstruktion“ übersetzt. Während „umgekehrt entwickeln“ einen Entwicklungsprozess in umgekehrter Reihenfolge suggeriert, weiss man bei „Nachkonstruktion“ sofort, dass es sich um das Konstruieren eines bereits bestehenden Objektes, also das Aufbauen einer möglichst genauen Kopie handelt.

Unterschiedliche Fachbereiche

RE wird in verschiedenen Fachbereichen unterschiedlich eingesetzt. So versteht man unter RE z. B. in der Software-industrie, in der Architektur, in der Kriminalistik oder im Maschinenbau nicht immer das Gleiche. Wir konzentrieren uns in diesem Artikel auf den Bereich Maschinenbau.

Woher kommt Reverse Engineering?

Die Ursprünge des RE kommen aus dem Designbereich. Als Beispiel: ein neues Autodesign wurde manuell aus einer Modelliermasse kreiert und fein angepasst. Das Interesse besteht nun darin, das Design möglichst genau 1:1 in ein CAD zu übernehmen, damit die Serienteile daraus konstruiert werden können. Hier war also eine Technologie gefordert, die das bestehende Teil dreidimensional aufnehmen und in eine elektronische Form bringen kann. Wir sind also in der heute sehr umfangreichen Welt der 3D- Technologien.

Technologien

In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedenste Technologien hierfür entwickelt und mittlerweile auch massentauglich produziert. Unter dem Überbegriff
„3D-Scanner“ gibt es grosse Anlagen, in denen ein 3D- Kamerasystem mittels Roboter um ein Objekt, z. B. ein Auto geschwenkt wird, aber auch kleine Anlagen, die kleinere Teile in Bruchteile eines Millimeters genau auflösend scannen. Es gibt voll automatische Anlagen und Handscanner, von hoch technischen Anlagen bis zu „plug‘n play“ ist also alles vorhanden. Entsprechend unterschiedlich sind natürlich auch die Investition von unter hundert oder wenigen hundert bis zu mehreren zehn- oder sogar hunderttausend Franken.

Die Scan-Auflösung ist so präzise, dass Angussabriss, Formtrennungsgrat, Einfallstellen und sogar VDI-Struktur sichtbar und ausmessbar sind

3D-Scan eines Modellautos (1:10 RC Car) aufgenommen mit einem einfachen freihand-3D-Scanner ohne jegliche Vorrichtungen und Optimierungen

Anwendungen

Die Anwendungen sind so vielseitig wie die Technologien. Vom erwähnten manuell hergestellten Designmuster oder nachgearbeiteten Teil über Naturformen bis hin zum „simplen Kopieren“ eines Teils, von dem keine 3D-Daten vorhanden sind.

Ein Beispiel der „Nachkonstruktion“: wir setzten für einen Kunden lange Jahre das gleiche Kunststoffteil eines Lieferanten ein. Als für ein neues Produkt eine Änderung an diesem Teil vorgenommen werden musste, teilte uns der Hersteller mit, dass er von dem Teil keine 3D-Daten habe. Wie jetzt eine Änderung am Teil machen, möglichst sogar im gleichen Spritzgusswerkzeug? Ohne RE-Technologien müsste jetzt ein Konstrukteur das Teil von A bis Z vermessen und versuchen nachzumodellieren. Da das Teil 3D-Formen enthielt, wäre es unmöglich, die Geometrie so genau zu treffen, dass das bestehende Werkzeug angepasst werden kann. Dank eines 3D-Scans hatten wir ein 3D-Modell, das uns im CAD direkt als Vorlage diente und relativ schnell hatten wir das Teil auf 0.01mm genau nachmodelliert. Danach konnten wir einfach unsere Änderung einbringen.

Vergleich 3D-Scan (blau) und neu aufgebautes, geändertes Teil (grün transparent)

Vorgehen

Das Vorgehen bei der „Rekonstruktion“ hängt stark davon ab, wozu das neue 3D-File verwendet werden muss. Wenn es um ein grobes Modell, z. B. zum leichten Anpassen und erneuten 3D- Drucken geht, können heute viele 3D-Scanner mit der eigenen Software eine „Flächenrückführung“ machen und das File ist schon bereit für die Nachmodellierung und erneute Herstellung. Soll das File dann aber z. B. für ein Serienteil aus Spritzguss verwendet werden, kommt man meist nicht darum herum, das File neu aufzubauen. Hier gilt das Scanfile also als Referenzteil zum elektronischen Ausmessen und zum Vergleich während und nach dem Neuaufbau.

Bild: 3D-Scan eines Kunststoff-Clips (47x29x16mm) aufgenommen von einem professionellen 3D-Scan-Gerät

Ein Prozess für die Zukunft?

Durch die „bezahlbaren“ Geräte wurde der 3D-Scan längst zu einem der üblichen Tools während eines Entwicklungsprozesses. Immer dann, wenn man etwas Bestehendes ins System bringen muss. Wir gehen aber einen Schritt weiter und überlegen uns einmal, ob RE nicht ein von Anfang an eingeplanter Teil des Entwicklungsprozess ist?

Simultaneous Engineering

Dieser Gedanke bringt uns zu einem anderen englischen Ausdruck, dem Simultaneous Engineering. In der heutigen Zeit gibt es längst nicht mehr nur den „konventionellen“ Weg ein Produkt zu entwickeln. Die Produktlebenszyklen werden immer kürzer, es werden immer schneller neue Produkte, neue Funktionen, neue Designs gefragt und so sind wir auch gefordert, den Entwicklungsprozess zu beschleunigen. Zudem haben wir mit den verschiedenen 3D-Techniken viele Möglichkeiten, Optimierungspotential früh zu erkennen und so nebst Zeit auch Kosten von Optimierungsloops zu reduzieren.

Ein Beispiel

Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Der Kunde hat eine Produktidee, der Designer stellt sich ein Design vor und der Konstrukteur hat ein Mechanikkonzept.

Online – on time

Bereits in den Anfängen des Entwicklungsprozesses wird heute viel enger zusammen gearbeitet als früher – auch wenn die Partner geografisch tendenziell weiter voneinander entfernt sind. Per WebEx oder ähnlichen Onlinetools können alle drei direkt am Bildschirm die Ideen des Anderen sehen, zusammen skizzieren und so schnell vorwärts kommen, ohne sich immer treffen zu müssen. Wir haben heute Projekte, in denen in den „heissen Phasen“ tägliche WebEx-Meetings von z. T. nur 15 – 30 Minuten stattfinden, die den Entwicklungsprozess massiv beschleunigen.

3D-Druck – 3D-Scan

Irgendwann kommt aber der Moment, in dem nicht mehr nur am Bildschirm gearbeitet werden kann: der Kunde muss seiner Marketingabteilung ein Anschauungsmuster geben, der Designer muss das Design für den letzten Schliff in natura vor sich sehen, der Konstrukteur muss seine Mechanik testen. Heute gibt es unzählige 3D Druckverfahren*, die quasi über Nacht die konstruierten Teile herstellen. Dabei ist es sehr wichtig, dass für jedes Teil das richtige 3D-Druckverfahren gewählt wird. Denn jedes Verfahren hat seine Vor- und Nachteile und je nach geforderter Genauigkeit, Oberfläche, Materialeigenschaft oder Funktion gilt es, das richtige Verfahren zu wählen.

Der Begriff 3D-Druckverfahren bezeichnet eigentlich diejenigen Verfahren, bei denen ein Material mittels Druckkopf dreidimensional aufgebaut wird. Der Begriff hat sich aber mittlerweile umgangssprachlich als Überbegriff für alle generativen Prototyping-Verfahren etabliert, also auch Verfahren, bei denen z. B. mit Laser lokal ein Material ausgehärtet / ausgeschmelzt wird.

Nun kann der Designer sein Design manuell nachbearbeiten und der Konstrukteur seine Teile finetunen. 3D-Scan-Verfahren ermöglichen es nun, sowohl die geänderten Teile wieder ins System einzuspeisen und so nicht nur die Änderungen zu dokumentieren, als auch gleichzeitig als Vergleichsmodell für die nachfolgenden Anpassungen zu dienen.

Fast unbeschränkte Möglichkeiten

Die Einsatzgebiete solcher Verfahren im Entwicklungsprozess sind fast unbeschränkt und die technischen Möglichkeiten werden täglich ausgereifter und massentauglicher.

 Auch kommen immer mehr Möglichkeiten aus der Ecke der „Industrie 4.0“, bei der wir längst nicht mehr nur von „Geräten“ sondern von vernetzten Anwendungen und Prozessen sprechen.

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