Die Wahl des richtigen Kunststoffs

Ich will ein Teil aus Kunststoff herstellen. Aber welchen Kunststoff wähle ich?

Diese Frage ist sehr vielseitig, nicht immer gleich einfach zu beantworten und wird oft zu leichtfertig abgehandelt.
Abgesehen davon, dass es in der Regel nicht „einen“ richtigen Kunststoff gibt, kommt es oft auch darauf an, was bereits am Lager ist oder welche Erfahrungen bereits gemacht wurden.

Das Herstellverfahren beeinflusst die Materialauswahlmöglichkeiten

Als Erstes muss ich wissen, welches Herstellverfahren für mein Teil gewählt wird, denn dies beeinflusst das Sortiment an zur Verfügung stehenden Materialien erheblich.

Generell kann man dies wie folgt einteilen:

  • Mechanische Fertigung
    → Sortiment der Halbfabrikate.
  • Thermoformen
    → Hier kommt es auf die Stärke an, da für dickere Teile mit Platten und für dünnere Teile mit aufgerollten Folien gearbeitet werden kann. Entsprechend gilt es, das Sortiment der Platten- oder Folienhersteller zu kennen.
  • Spritzgiessen oder Extrusion
    → Hier ist die Auswahl der verschiedenen Granulat Hersteller quasi unendlich.
  • Generische Verfahren („3D-Druck“, STL, SLS usw.)
    → Hier gilt es, die Materialien der verschiedenen Dienstleister zu kennen. Beim PLA („3D-Druck“) kann die Auswahl meist selber recherchiert werden. Bei anderen Verfahren wie SLS, STL usw. verwenden viele Hersteller selbst entwickelte Materialien oder haben nur eine kleine Menge an Materialien im Betrieb. Das heisst, ich muss für die Materialwahl schon fast den Hersteller auswählen.
  • Diverse weitere Verfahren, z.B. zur Herstellung von Duroplasten und Elastomeren.

Wir schauen uns in diesem Artikel in erster Linie den Fall Spritzguss an, da hier die grössten Stückzahlen produziert werden und somit die Materialwahl für eine Serienproduktion entsprechend sorgfältig geschehen muss.

Anforderungen an die Konstruktion sind Anforderungen an das Material

Das klingt einleuchtend, wird aber im Eifer des Gefechts oft nicht oder erst spät berücksichtigt. Meine Materialwahl startet also zu Beginn des Projekts (oder schon in der Angebotsphase) bei der Anforderungsliste (Lasten-/Pflichtenheft, oder welches Dokument auch immer meine Konstruktion beschreibt).
Hier können gewisse Grundsteine gelegt werden. Einige mögliche Kriterien: Einsatztemperaturen, Chemikalienbeständigkeit, Umwelteinflüsse, Transparenz oder spezifische Farbe oder weiche Oberfläche. Daneben auch zu erfüllende Normen wie z.B. Brandschutz, Lebensmitteltauglichkeit, Spülmaschinentauglichkeit, Gamma-Sterilisierbarkeit, USP VI usw. Hierbei ist auch wichtig zu wissen, ob ein Zertifikat gefordert wird.
Diese Anforderungen muss ich kennen und berücksichtigen, bevor ich mit der Konstruktion starte. Natürlich gilt dies nicht nur für die Wahl „welcher Kunststoff“ sondern vorab für die generelle Wahl (ist Kunststoff / Thermoplast überhaupt geeignet?).
Wir müssen also dem Kunden helfen, alle Anforderungen aufzulisten bzw. zu definieren. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Sicht des Endanwenders. Haptik und Optik eines Materials können für den Erfolg des Produktes entscheidend sein. Die Lieblingsfarbe des Anwenders ist dann aber evtl. nicht machbar, weil z.B. das FDA/NSF Zertifikat beim Einfärben verfallen würde.
Auch die weiterführende Verwendung wie z.B. Beschriftung (Bedruckung, Etikettierung usw.) gehen gerne vergessen, können aber für die Materialwahl entscheidend sein.

Bild: Symbole auf dem von uns entwickelten Take-away Geschirr (siehe Erfahrungsbrief N° 10). Jedes Symbol ist auch relevant für die Materialwahl.

Materialüberlegungen bei der Teilegestaltung

Oft wird erst über den richtigen Kunststoff entschieden, wenn das Teil schon fast fertig konstruiert ist. Das ist nicht gerade die ideale Strategie. Viel besser ist es, wenn ich mir vor der effektiven Konstruktion, also basierend auf dem ersten Konzept, schon eine erste Stückliste erstelle.
Das zwingt mich dazu, mir bereits jetzt die richtigen Gedanken zur Anzahl der Teile, zum Herstellungsprozess, zur Montage, zur Teilegestaltung und eben auch zur Materialwahl zu machen.
Wenn ich mir also vor der Konstruktion eine erste grobe Materialliste erstelle, weiss ich auch schon worauf ich bei der Konstruktion achten muss.
Ein einfaches Beispiel: wenn meine Materialwahl für ein Teil in erster Linie auf die generelle Steifigkeit eines Teiles fällt, beisst sich dies evtl. mit einer Konstruktionsidee der Verschnappung oder führt dazu, dass ich den Schnapper an das andere Teil mache oder entsprechend der Materialeigenschaften geometrisch anpasse.

Auch immer zu berücksichtigen ist die geplante Materialwahl in Bezug auf das spritzgussgerechte Konstruieren. Da gibt es ja verschiedene Grundsätze wie z.B. konstante Wandstärken, Materialanhäufungen vermeiden, Rippen im Verhältnis zur Grundwandstärke nicht zu dick, nicht zu dünne Wandstärken usw. Wer oft Spritzgussteile konstruiert weiss, dass diese Grundsätze nicht immer gleich gut einzuhalten sind. Wenn ich mein Material grob gewählt habe und dessen Eigenschaften kenne, kann ich auch beurteilen wie heikel solche Effekte sind. Zum Beispiel neigen einige Materialien mehr zu Einfallstellen wogegen andere toleranter sind. Einige fliessen besser, was das Thema dünne Wandstärken weniger heikel macht. Ausserdem müssen hier auch flankierende Anforderungen berücksichtigt werden. Wenn z.B. meine Brandschutzanforderung UL 94 V0 ist, muss ich (auch in noch so geringen Bereichen) mit minimalen Wandstärken arbeiten. Kenne ich mein Material schon genau, ergibt sich auch die UL94 Bedingung automatisch (z.B. UL94@1.2mm heisst, ich darf nirgendwo kleiner als 1.2mm sein).
Umgekehrt kann natürlich ein Detailkonzept (Beispiel: wir wollen verschnappen) auch dazu führen, dass ich meine ursprüngliche Materialliste anpassen muss und ein Material wähle, das besser für Schnapper geeignet ist (oder notfalls einen Kompromiss aus zwei Anforderungen finden).

Also sind wir beim nächsten Materialeinflussfaktor:

Die Teilegestaltung beeinflusst die Materialwahl

Bild:
Wäscheklammern aus Kunststoff mit Filmscharnier- und Federfunktion

 

Wenn nicht wie oben beschrieben die generelle Anforderung das Material zu stark einschränkt, kann umgekehrt meine Gestaltung des Teils das Material beeinflussen. Einige Beispiele:

  • Biegeelemente wie Schnapper, flexible Geometrien usw. benötigen einen einigermassen flexiblen und nicht zu spröden Kunststoff.
  • Wenn etwas möglichst steif sein muss, wählen wir einen steiferen oder ggf. einen mit z.B. Glasfasern verstärkten Kunststoff.
  • Gleitfunktionen oder Reibungssituationen bedingen einen Kunststoff mit guten Gleiteigenschaften (Tipp für nicht so erfahrene Kunststoffanwender: mal ein paar Kunststoffe in die Hand nehmen und daran herum reiben. Wenn sich einer „glitschig“ anfühlt ist das schon mal kein schlechtes Zeichen).
  • Zwei zu verschweissende Kunststoffe müssen gleich oder ähnlich genug sein.
  • Zwei in hoher Geschwindigkeit aufeinander reibende Materialien sollten nicht identisch sein, um ein Verschmelzen während der Anwendung zu vermeiden.
  • Oder ganz einfach aber oft vergessen: wenn ich eine spezifische Farbe für mein Gerät brauche, sollte ich möglichst keine oder wenige unterschiedliche Materialien für die Sichtteile verwenden, da nicht alle Materialien die gleiche Farbe ergeben beim Einfärben. Ausserdem hilft dies auch bei der Wirtschaftlichkeit, wenn nur ein Material mit der speziellen Farbe und daher auch in grösseren Mengen eingefärbt werden kann.
  • Wenn es dann um die Detailauswahl geht (nicht nur „ich nehme ein POM“ sondern z.B. „ich nehme ein Hostaform C27021“) muss ich z.B. bei dünnwandigen Teilen oder nicht optimalen Fliesswegen darauf achten, dass ich einen gut fliessenden Typ nehme. Auch dies nur ein Beispiel für unzählige mögliche Anforderungen. Hier ist oft die Abklärung mit den Rohmaterialherstellern zwingend. Oft kann auch ein erfahrener Spritzgiesser oder ein firmeninterner Kunststoffspezialist weiterhelfen.
Verfügbarkeit und Preis ist nicht zu vernachlässigen

Dass der Rohmaterialpreis nicht vernachlässigt werden kann ist in den meisten Branchen absolut klar: wenn der Fiat Uno reicht, müssen wir keinen Rolls-Royce verwenden. Und die Unterschiede sind massiv. Von 1.00-2.00 CHF/kg bis mehrere hundert CHF/kg findet man alles. Hier hilft die Kunststoffpyramide für einen groben Überblick. Je nach Firmengrösse muss auch möglichst früh die Einkaufsabteilung mit einbezogen werden.

Wenn es um den finalen Detailentscheid geht, spielt oft auch die Verfügbarkeit eine Rolle:

  • Global: ein Teil konstruieren, das auf einem anderen Kontinent produziert wird bedingt bei der Materialwahl auch die Abklärung, ob das Material auch dort lieferbar ist (meist auf online Portalen wie z.B. materialdatacenter.com ersichtlich).
  • Firmenintern: wenn ich ein bereits für andere Teile verwendetes Material einsetzen kann, ermöglicht dies eine grössere Einkaufsmenge und eine einfachere Lagerung.
  • In kleinen Mengen oder kurzfristig: wenn ich Versuche machen will, z.B. zum Evaluieren, ob dieses Material für meine spezielle Anforderung ideal ist, möchte ich bestimmt nicht zwei Monate warten und/oder 100kg kaufen müssen. Hier ist der späteste Zeitpunkt für das Gespräch mit Rohmaterialherstellern resp. deren Vertriebspartnern.

Bildquelle: Minihaa, Wikipedia: „Hochleistungskunststoffe“

Grob oder fein wählen?

Wenn ich das perfekte Material wählen will, kann der Materialwahlprozess einiges an Zeit und Aufwand verschlingen und ich muss mich mit einigen Spezialisten absprechen oder verschiedenste Tabellen durchackern.
Aber nicht immer sind die Materialanforderungen gleich heikel. Entsprechend gilt es auch abzuwägen, wie viel Aufwand in die Materialwahl gesteckt wird und wie genau eine Materialwahl definiert sein muss.

Zur Erläuterung ein paar Beispielsituationen:

  • Wenn ich kritische Anforderungen (funktionell oder regulatorisch) und z.B. eine FEM- oder Mold-Flow Analyse mache, muss ich das präzise Material definieren (z.B. Grivory GV-5H schwarz 9915). Nur so kann ich sicherstellen, dass mein Teil dann möglichst genau meinen Simulationen entspricht.
  • Wenn ich keine kritische Anforderung habe und das vorhandene Rohmaterialsortiment beim Hersteller nicht kenne, tue ich ihm einen Gefallen, wenn ich nur das Polymer definiere (z.B. ABS). Dann kann er das ABS nehmen, welches er in grossen Mengen am Lager hat und mir einen besseren Preis machen. Natürlich ist es auch hier besser, eindeutiger und weniger konfliktanfällig, wenn ich das genaue Material definiere, dies aber vorher mit ihm abkläre. Was aber, wenn der Hersteller noch gar nicht bekannt ist? Es ist wie mit den Allgemeintoleranzen: falls ich mit der Ungenauigkeit leben kann, darf ich es auch grob lassen. Aber Vorsicht: oft werden vermeintlich einfache Kunststoffteile unterschätzt und Fehler bei der Materialwahl können sehr teuer zu stehen kommen.
Aber was wähle ich jetzt genau?

Bisher haben wir viel über das Vorgehen gesprochen aber noch keine konkreten Tipps gegeben. Das liegt daran, dass die verschiedenen Granulat-Hersteller ein fast unendliches Sortiment an Materialien (inkl. Füll- oder Verstärkungsmaterialien) haben,  welche die Eigenschaften jeweils massiv verändern können. Auch ist die Liste verfügbarer Materialien immer in Bewegung und so kommen z.B. auch immer mehr biobasierende Kunststoffe auf den Markt, deren Eigenschaften und Verarbeitung sich teilweise stark von den klassischen Polymeren unterscheiden. Wie bereits erwähnt ist ein kompletter Auswahlprozess sehr aufwändig und selbst eine Auswahl der Listen wäre so lang wie dieser Artikel.

Aber natürlich geben wir in diesem Artikel auch noch ein paar Empfehlungen ab, um vor allem kunststoffunerfahreneren Entwicklern eine erste Hilfe zu geben:

PS ist ein sehr günstiger Kunststoff für den Masseneinsatz bei nicht so technischen Teilen (man kennt die Kaffeeautomatenbecher).
PE wird ebenfalls in grossen Massen eingesetzt und ist sehr preiswert. Häufigstes Einsatzgebiet ist die Verpackungsindustrie.
PET kennen wir alle von den Getränkeflaschen her. Robust, transparent und chemisch relativ gut beständig.
ABS ist allgemein eine gute Wahl für Gehäuse und Trägermaterialien. Es lässt sich auch gut schweissen, kleben und bedrucken. Mechanische Eigenschaften sind ok aber hauen einen nicht vom Sockel. Nature ist es beige oder grau.
PP ist allgemein sehr beständig gegen verschiedenste Medien. Kleben und Bedrucken sind eher schwierig (ausser Laserbeschriften). Mechanische Eigenschaften sind ok aber hauen einen nicht vom Sockel. Nature ist es beige-braun.
POM hat sehr gute mechanische Eigenschaften, vor allem Gleiteigenschaften und Abriebfestigkeit. Auch ist es sehr elastisch, d.h. Biegeelemente und Schnapper sind hier gut angesiedelt. Nature ist es weiss. Bei Bedarf kann es auch mit Glaskugeln/-fasern oder sogar Carbonfasern verstärkt werden, um die Stabilität und Steifigkeit zu erhöhen. Auch die chemische Beständigkeit lässt sich sehen. Bedrucken und Kleben sind hingegen extrem schwierig.
PA ist sehr zäh und hat ebenfalls sehr gute mechanische Eigenschaften. Generell nimmt es verhältnismässig viel Feuchtigkeit auf. Dieser oft beklagte Nachteil ist aber gleichzeitig der eigentliche Vorteil des Materials. Erst durch die Feuchtigkeitsaufnahme wird es zäh und fast unzerstörbar. Oft werden Mechanikbaugruppen aus POM- und PA-Kombinationen zusammengestellt, da die Eigenschaften nicht weit auseinanderliegen, aber z.B. eine POM-Welle mit einem PA-Gleitlager nicht verschmilzt (im Gegensatz zu POM-POM-Kombination). Auch PA kann sehr gut verstärkt werden. Bei einer erwähnten POM-PA-Kombination ist unbedingt darauf zu achten, dass beide Materialien unverstärkt oder aber beide verstärkt sind. Sonst wird das unverstärkte Material schnell viel Verschleiss erleiden (ausser man will ein definiertes auswechselbares Verschleissteil). Nature ist es weisslich.
PMMA  kennt man in erster Linie als transparentes Plattenmaterial („Plexiglas“). Im Spritzguss wird es nicht so oft eingesetzt. Es ist relativ kratzfest und hochtransparent. Mechanisch ist es nicht sehr beanspruchbar. Jeder Heimwerker weiss: es ist spröde (bricht gerne und springt schnell beim Bohren) und schmilzt relativ einfach (wenn es beim Bohren nicht springt verschmelzen die Späne mit dem Material).
PC ist ebenfalls von Natur aus transparent. Es besticht durch seine für ein transparentes Material ausserordentliche Zähigkeit und wird nebst einfachen Lichtleitern oder Sichtfenstern z.B. als Splitterschutz eingesetzt.
PEEK ist ein Hochleistungskunststoff und Alleskönner: hohe Temperaturen, Chemikalien usw. beeindrucken es nicht wirklich. Ausserdem hat es auch sehr gute mechanische Eigenschaften (Biegen, Federn usw.). Aber der Preis ist eben auch hoch: wir sprechen von 10-20x so teuer wie z.B. POM.
PTFE ist uns allen von den Bratpfannen her bekannt („Teflon“). Also logisch: gute thermische Beständigkeit und gute Gleiteigenschaften (es brennt nichts an). Im Gegenzug ist es eben auch sehr teuer (ähnlich wie PEEK) und Kleben oder Bedrucken ist relativ schwierig.
Fazit

Den „richtigen“ Kunststoff kann ich nur wählen, wenn ich alle Anforderungen an mein Produkt kenne und berücksichtige. Und zwar vom Hersteller bis zum Anwender resp. bis zur Entsorgung.
Sonst nützen alle Datenblätter und Tabellen nichts.
Daher muss das Thema Materialwahl bereits von der ersten Idee an berücksichtigt werden.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert